Sonntag, 26. Juni 2016

Blablabylon

Wer ist Schuld am Brexit? Die Briten? Die EU? Angela Merkel? Wer trägt die Verantwortung an der Flüchtlingskrise? Die Flüchtlinge? Die EU? Angela Merkel? Alles Blödsinn. Schuld ist und Verantwortung trägt unsere Sprache.

Brexit. Das klingt nicht nach dem, was es ist: eine Katastrophe, ein fatales Signal für eine mögliche Friedensgemeinschaft. Gar nicht schlimm jedenfalls. Brexit, das klingt schlank und elegant wie ein schickes Sportwagenmodell, das man am liebsten gar nicht erst probefahren sondern sofort kaufen will – selbst, wenn man sich dadurch derbe verschuldet.

Als die Rechtspopulisten im März 2016 öffentlich (also: in Talkshows) anfingen, von einer Flüchtlingsschwemme zu sprechen, war allerorten die Empörung groß. Das würde ja assoziieren, dass Europa tsunamiartig überflutet werde. Nein, nein, das konnte es nicht sein. Ein neues Wort musste her. Findige Füchse im Feuilleton und anderswo hatten es schnell gefunden: Flüchtlingskrise, das war selbstredend bedeutend besser. Nicht.

Wir haben keine Krise! Wir haben eine Aufgabe, dammit! Und die lässt sich nur gemeinsam bewältigen. Die unselige Verknüpfung von "Flüchtling" und "Krise" legt zudem nahe, dass letzteres unweigerlich aus ersterem resultieren würde.

So geht das immer: Wir haben kein Präkariat in diesem Land, wir haben Armut. Und finaler Rettungsschuss ist auch nur ein Euphemismus für Mord. Ehe man es sich versieht, hat unsere Sprache das Problem von Fall zu Fall entweder verschüttet oder verzerrt. Wenn das Vokabular selbst schon eine Lüge ist, kann alles, was daraus entsteht, jede Rede, die gehalten, jeder Aufsatz, der verfasst, jede Diskussion, die geführt wird, nicht wahr sein.

Freitag, 6. Juni 2014

Luftikus mit Höhenangst

Gefieder ist ein feiner Zwirn
Ich bleib am Boden haften
Die Bilder hinter meiner Stirn
Sind lauter Totenmasken

Ich will so hoch wie Ikarus
Mein Blick ruht auf den Sternen
Der Fall kommt plötzlich. Sicher muss
Ich erstmal laufen lernen

Die Luft ist nicht mein Element
Ich bau zu dicht am Wasser
Wer meine schwarze Seele kennt
Der spielt den Lichtanlasser

Ich gebe immer Feuer und
Will doch nur weinen können
Die Schwerkraft ist ein treuer Hund
Sie liegt auf meinen Genen

Die Maske hält. Die Maske bricht
Ein Schatten fällt auf das Gesicht
Ein Luftikus mit Höhenangst
Ist alles, was Du sehen kannst

Für das, was auf der Zunge brennt
Fehlt mir die Zaubersprache
Mein Müll bleibt weiter ungetrennt
Weil ich nicht saubermache

Da ist kein Koffer in Berlin
Und so verstreichen Jahre
Ich bette meinen Kindersinn
In eine Leichenstarre

So vieles, was mir widerfährt
Kann ich nicht überwinden
Wer immer meine Lieder hört
Kann alles wieder finden

Geschichten, die das Leben spielt
Die wir geschehen ließen
Ich bleibe Gottes Ebenbild
Auf krummen Krähenfüßen

Die Maske hält. Die Maske bricht
Ein Schatten fällt auf das Gesicht
Ein Luftikus mit Höhenangst
Ist alles, was Du sehen kannst

An meinem Fuß ein Bleigewicht
Mein Kopf hängt in den Wolken
Ich trage dieses Zweigesicht
Mit allen schlimmen Folgen

Der bunte Hund wird schwarz und weiß
Und legt sich patzig nieder
Ab geht‘s. Die Sonne war zu heiß
Die Erde hat mich wieder

Dienstag, 13. Mai 2014

Der ESC ist mir Wurst

Es muss 1982 gewesen sein, denn der Culture Club hatte mit "Do You Really Want To Hurt Me" seinen ersten großen Hit. Mein Bruder spielte mir den Song vor, zeigte mir den Boy George-Aufkleber auf seiner Schreibtischlampe und sagte: "Das ist ein Mann, der sich wie eine Frau anzieht." Und ich dachte so: "Krass." Ich dachte natürlich nicht "krass". "Krass" war zu Beginn der 1980er kein gängiger Begriff. Wäre er's gewesen, hätte ich krass gedacht. So dachte ich wahrscheinlich eher: "Oh. Aha?!" Menschenskind, ich war sechs Jahre alt. Was soll man da in einer solchen Situation schon groß denken?

Wohl aber begriff ich: Das scheint irgendwie neu zu sein, wenn es schon den Flüsterton der Verschwiegenheit braucht, um sich darüber auszutauschen. Wie neu das tatsächlich war, wird einem erst recht bewusst, wenn man sich den Ausgang des diesjährigen European Song Contest anschaut.

Ein androgynes, ätherisches, grell überschminktes Wesen, das in ein Mikro haucht, man möge es doch bitte nicht verletzen – zu einer Zeit, als Homosexualität hierzulande noch wirklich ein Reizthema war: Das ist ein politisches Statement. Hape Kerkerlings unvergessene Antwort auf, sein souveräner Umgang mit dem Zwangs-Coming-Out durch Rosa von Praunheim 1991: Das ist ein Zeichen für Toleranz. Olivia Jones auf dem NPD-Parteitag in Hannover: Das ist ein mutiger Vorstoß. Conchita Wursts Sieg beim ESC 2014? Da zitiere ich doch gern und glatt den großen Max Goldt: "Ich aber gähne und sage, ach was." Zumal hinter all der "Politik" jetzt gern vergessen wird, wie marginal der künstlerische Beitrag ist – was überhaupt das größte Ärgernis darstellt.

Vielleicht ist die (auch von mir) gerne geschmähte Standard-Replik "Jedem nach seiner Fasson" oft schon das höchste der Gefühle. Vielleicht kommt sie im Zweifelsfall nicht von homophoben Mitbürgern sondern von Menschen, die sich behaglich in ihrer kleinen Welt eingerichtet haben und da nicht heraus gezerrt, deren Bewusstseine nicht zwangsweise erweitert werden müssen. Sonst kehrt sich am Ende alles gegen die Bekehrer. Wer die entscheidenden gesellschaftlichen Schritte von Toleranz zu Akzeptanz zu Integration schaffen will, muss dahin gehen, wo's weh tut – bestimmt nicht nach Berlin.

Ich bin in meinem Leben einigen intolerante Menschen begegnet. Es waren zuweilen schwule dabei.

Samstag, 30. November 2013

Ein Phantom und große Oper

Jeder, der was macht, macht was falsch. Und jeder, der was falsch macht, erntet dafür Kritik.

Kochen ist ein vergleichsweise hartes Brot. Trotzdem darf (und sollte!) man sich beschweren, wenn es nicht schmeckt. Es sei denn, es ist einem egal, was man isst. Das sollte auch für die Bühne gelten – sogar in besonderem Maße. Warum ist es gerade in der Kunst so schwierig, von Fall zu Fall gar unmöglich, Kritik zu äußern – ohne dafür angeprangert zu werden?

Wer die Bühne wählt, wählt die Öffentlichkeit. Und die umfasst schlechterdings spitze Federn. Man unterschreibt immer den Gesamtvertrag, und gerade das strahlendste Rampenlicht offenbart naturgemäß zuweilen den tiefsten Schatten. Was ist das größere "Verbrechen": In ihn zu treten oder ihn zu benennen?

Ich war letzte Woche zu Gast in zwei Produktionen. Nur eine von beiden überzeugte mich auf ganzer Linie. Und brauchte dafür nicht mehr als ein karges Bühnenbild, einen Pianisten und zwei Darsteller. Hier war Verschwendung und Opfer, hier war die Intimität, die das Verhältnis zwischen Künstler und Publikum so dringend braucht, weil sie erst die Bühne zum Atmen bringt. Und zum Aufatmen, wenn einem die Luft wegbleibt.

Die andere, Hamburgs Neuauflage von Andrew Lloyd Webbers "Phantom der Oper" in der Neuen Flora, bietet großen Aufwand gegen großes Geld – und ist doch viel kleiner. Weil hier Verweigerung am Werk ist. Auf der Bühne (stellenweise) und dahinter (konsequent). Das muss man sagen dürfen. Oder man frisst, um im Bilde zu bleiben, weiter Scheiße. Trotzdem darf ich mir jetzt den Vorwurf machen, keineswegs aber gefallen lassen, ich sei gemein. Ja: unmenschlich.

Noch einmal: Was ist das größere Verbrechen? Man kann keine kalte Küche servieren und es dem Gast dann übelnehmen, wenn ihm nicht warm ums Herz wird.

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Das größte Missverständnis

Kulturkritik ist eine heikle Sache. Gern wird davon ausgegangen, dass diese Berufung ergriffen wird von Menschen, die lieben, worüber sie schreiben. Aber dass man (beispielsweise) Theater liebt heißt ja nicht, dass man alles lieben muss, was über die Bühne geht. Entsprechend groß ist das Entsetzen (die Ent/täuschung), wenn die Laudatio mal ausbleibt.

Das größte Missverständnis zwischen Kulturschaffenden und Kulturkritikern (wie übrigens auch das größte Missverständnis zwischen Kulturschaffenden und ihrem Publikum) ist dies: dass es um Konfrontation gehe. Dabei geht es darum, einen Dialog herzustellen.


Ein Theater, das sich seinem Publikum verweigert, bleibt leer. Ein Bühnenmensch, der sich seinem Kritiker verweigert, ist feige. Oder, schlimmer noch, ein selbstherrlicher, saturierter Sektierer. Ein Publizist, der sich seinem Leser verweigert, ist einfach nur langweilig. Und das ist schlimm genug.


Es gibt die absurdesten und immer wiederkehrenden Vorwürfe gegen die schreibende Zunft, meistens als Ratschläge getarnt: Das könne man so nicht sagen. (Sicher kann man, es steht ja schon da.) Man habe gar nicht richtig hingesehen. (Wollte man im Zweifelsfall vielleicht auch gar nicht mehr.) Man habe keine Ahnung. (Was weniger an einem Mangel an Verständnis liegt als an einem Mangel an Erklärungsversuchen bzw. Deutungsangeboten.) Und, der Killer unter den Pseudo-Argumenten: Man habe es selbst "nicht geschafft" (was denn eigentlich?) und sei nur ein gescheiterter Künstler, der den Applaus schlechtreden müsse, in welchem andere baden (gehen).


Es ist erschreckend und unglaublich, wie gleichgeschaltet (und ich weiß um die negative, ja: gefährliche Konnotation dieses Wortes) es ausgerechnet im Kulturbetrieb zugeht. Wer kein Claqueur ist, wird verb(r)annt. Ein Fein-, ein Freigeist ist nicht, wer sich dafür hält. Es ist jemand, der Antworten sucht – statt vorgibt, welche zu haben.

Mittwoch, 12. Juni 2013

Beuys II Men

Was ist Kunst?

Das zu unrecht viel geschmähte Diktum von Joseph Beuys, jeder Mensch sei ein Künstler, ist mehr als eine provokante Spitze. Es ist ein soziologischer Ansatz, mehr noch: ein antropologisches Programm, mehr noch: ein Leitfaden zur Menschwerdung. Vielleicht hätte er darum besser daran getan zu sagen: "Jeder Mensch kann ein Künstler sein."

Der Bäcker, der sich seinem Handwerk derart verpflichtet, dass er sagt: Ich will die besten Brötchen backen oder doch zumindest einzigartige Brötchen – und dies nicht primär aus einer wirtschaftlichen Denkweise sondern philanthropischen Haltung heraus (auch sich selbst gegenüber) –, der Bäcker, der mit Hingabe an die Arbeit geht, sich also hingibt, darf sich als Künstler begreifen. Und wäre ganz nebenbei ein hübsches Pflänzchen in der Servicewüste.

Wer jemals erlebt hat, wie römische Busfahrer ihr Gefährt durch die beidseitig zugeparkten Straßen entlang Vatikanstadt bugsieren, weiß, was wahre Kunst vermag. Sie bewegt den Menschen.

Sie ist keine bloße Spielart der Arbeit, sie ist eine andere Form von Arbeit.


"Lass Dich fallen,
lerne Schlangen zu beobachten,
pflanze unmögliche Gärten,
lade jemand Gefährlichen zum Tee ein,
mache kleine Zeichen, die Ja sagen und verteile sie überall
in Deinem Haus.
Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit,
freue Dich auf Träume."

(aus: Jeder Mensch ist ein Künstler, Joseph Beuys zugeschrieben)

Dienstag, 11. Juni 2013

Der Jasager

Neu ist nicht böse. Es wäre vermessen zu sagen, Neu ist lieb. Aber Neu ist erstmal da und sagt: Nimm mich wahr!

Wie geht man damit um? Die entscheidende Triebfeder jeglicher Kunst ist die Bejahung, nicht die Ablehnung, ist die Integration, nicht die Ausgrenzung. Alles, was passiert, ist ein Angebot. Ob man es hineinnimmt in den Schöpfungsprozess oder nicht: Annehmen muss man es sehr wohl.

Mit acht Jahren wollte ich Schauspieler werden, danach nie wieder. Es gibt verschiedene Phantasien für die Bühne, und meine war nie die eines Darstellers. Wenn ich Theater denke, denke ich konzeptionell – (nicht nur, aber auch) darum erschien mir das Studium der Theaterwissenschaft passend. Und darum bewahre ich mir bis heute den Luxus des begeisterten Amateurs (oder des geschulten Außenseiters?), wenn ich auf meine eigene Zunft blicke.

Auch nach fünf Jahren in diesem Beruf bin ich immer noch erschüttert über jedes Nein aus dem Munde eines Kollegen: "Soviel Sekunden hat mein Tag nicht, die ich bräuchte, um mein Nein zu sagen. Meine Neine." (PeterLicht) Dieses Nein wuchert wie ein Geschwür, denn ja: Es ist der Krebs im Organismus der Kunst. Dieses Nein ist eines Künstlers, ist eines Bühnendarstellers, ist eines Schauspielers nicht würdig!